Die beiden Mythen
Die Natur hat im Tal von Schwyz ein Wahrzeichen gesetzt, mit dem auch das höchste menschliche Bauwerk nicht wetteifern könnte. In trutziger Wucht erheben die beiden Mythen aus mattgrünen und Tannendunkel. Ob wir durch die Nagelfluhtrümmer des Goldauer Bergsturzgebietes gegen den Lowerzersee hinabsteigen, von Brunnen her über die Aufschüttungsebene der Muota Schwyz zufahren oder von den Zürichseehöhen aus durch das Alptal der Innerschweiz entgegenwandern, immer wieder faszinieren und diese Zwillingsberge. Düster und drohend wirken sie, wenn Wolkenfetzen um ihre Kalkwände streichen. Als fein ziselierte Statuen erscheinen sie in grellem Sonnenlicht, wenn die harten Schatten jede Unebenheit der Felsen nachzeichnen und mit zartem Rot überhaucht sie der abendliche Widerschein der sinkenden Sonne, der noch lange ins verdämmerte Tal herableuchtet. Steil und wuchtig strebt der Grosse Mythen auf, ein grober behauene Pyramide voller Ecken und Kannten. Schmächtiger nimmt sich daneben der etwas breiter hingelagerte Kleine Mythen aus. Eine Senke in seiner höchsten Partie wird von zwei kleinen Spitzen flankiert. Die rissigen Felsen sind da und dort von Gras und Moos bewachsen. Gelegentlich guckt ein Legföhrenstrauch über eine Kante.
Die Mythen, Felsklötze auf weichem Grund
Welcher Laune der Natur verdanken wohl diese isolierten Felsklötze ihre Entstehung? Von einer geheimnisvollen Aura umwoben, erheben sie sich unvermittelt aus dem weich geformten, mit Wäldern und Weiden bedeckten Gelände. Der Sockel, auf dem sie ruhen, besteht zur Hauptsache aus schwärzlichen Schiefern, die leicht verwittern. Auf diesem Untergrund neigen die sumpfigen Hänge ständig zu Rutschungen. Die Bäche rauschen durch tiefe Tobel und ein bisschen Regen genügt schon, um ihr Wasser zu trüben. Doch schalten sich da und dort auch Kalkbänke in den Schiefer ein. Der Kalkstein scheint dann nur aus Foraminiferenschalen zu bestehen, aus dem Kalkschalen bestimmter Meerestiere also. Da diese flach und gelegentlich kreisrunden Schalenreste Münzen gleichen, spricht man auch von Nummuliten oder Münzensteinen. Diese Schiefer und Kalke, die gesamthaft als Flysch bezeichnet werden, sind zu Beginn der erdgeschichtlichen Neuzeit entstanden, zu einer Zeit wo auf dem Schauplatz der Alpenfaltung bereits die ersten Gebirgsketten die Szenerie beherrschten. Die Gesteine jedoch, aus denen die beiden Mythen bestehen, sind sehr viel älter. Im Gipfelsattel des Kleinen Mythens finden sich Dolomite und Tonschiefer aus der Triaszeit, die Hauptmasse besteht aus hellen Jurakalken und der Gipfel des Grossen Mythens trägt eine schief sitzende Kappe aus einen rötlichen Gestein, das der Kreidezeit zugeordnet werden kann. Tiefseeablagerungen aus dem geologischen Mittelalter „schwimmen“ also sozusagen auf viel jüngerem Grund; zwei Gesteinsbrocken, die wie von Riesenhand in die weiche Unterlage eingepflanzt worden sind. Heute weiss man, dass im Zuge der Alpenbildung einmal riesige Massen aus dem Bereich der heutigen Poebene an den Nordfuss der Alpen über das ganze Gebirge hinweg verschoben worden sind. Dabei warf der steinerne Mantel seinen Aussensaum über den bereits abgelagerten Flysch. Doch blieb diese Umhüllung nicht erhalten. Die Abtragung hat sie längst entfernt. Ihre Trümmer finden sich in der Molasse wieder. Nur am Alpenrand ragen noch Ruinen der einstigen Decke als isolierte Klippen auf, als Fremdkörper inmitten der sie umgebenen Kalkberge. Solche Überreste sind ausser den Mythen auch die wenigen markant aufragende Rotenfluh, das Stanserhorn, die Giswilerstöcke, die Stockhornkette und ein grosser Teil der Freiburger Alpen.
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